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Schrei(b)en statt Geschepper


uf den Lärm in dieser Welt und in diesem Leben kann es keine andere lyrische Reaktion geben als die des „Schrei(b)ens“. Die leisen Töne können vielleicht als Hinweise auf eine andere Wirklichkeit nützlich sein, aber dafür müssten sie erst einmal gehört werden, wahrgenommen, was in dem Getöse, das jeden Tag und an nahezu jedem Ort veranstaltet wird, nicht eben sonderlich wahrscheinlich ist.

Dieses „Lyrische Schrei(b)en“ muss sich natürlich von Radau unterscheiden, Lyrische Lautstärke nicht nur, um die Wahrnehmung wahrscheinlicher zu machen, sondern auch, weil es seine Intensität nur einsetzt, um den Radau als das zu entlarven, was er ist: ein Geschepper lauter leerer Töpfe, die diesen Krach nur veranstalten, damit ihnen niemand zu nahekommt, um festzustellen, dass hinter diesem Getöse alles hohl ist.

Das Geschepper als Verkleidung der Leere oder zumindest doch als eine leicht verfügbare Maskerade all jener Menschen, die so hohl und flach sind, dass sie sich allein durch Lautstärke das zu verschaffen versuchen, was sie am meisten begehren: Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, sie wollen einfach ein wenig beachtet werden. Dass sie dabei Gefahr laufen, als Hohlkörper entlarvt zu werden, liegt hinter dem Horizont, bis zu dem ihre Geisteskräfte reichen.

Welche Macht hingegen das "Schrei(b)en" haben kann, wird an zwei Beispielen deutlich:

Liao Yiwu ist der Name eines chinesischen Dichters, der dieser Tage für Aufsehen sorgte, weil er sich der Verfolgung in seiner Heimat durch die Flucht nach Deutschland entzog und mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. In seinem Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" ist das Gedicht "Massaker" berühmt geworden, für das er verfolgt und ausgestoßen wurde. „Massaker“ – ein Sinologe hat es "Der Schrei" genannt – schrieb er am Tag vor dem Massaker am Tiananmen 1989. Es wurde für ihn zur Eintrittskarte in den chinesischen Gulag =>
(„http://www.sueddeutsche.de/kultur/liao-yiwu-massaker-todesfuge-auf-chinesisch-1.1121818“)
.

ahre früher gab es schon die über den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie verhängte Fatwa, die vom seinerzeitigen iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini ausgesprochen wurde, nachdem Rushdie 1988 in und mit seinem Roman "Die satanischen Verse" angeblich den Propheten beleidigt hatte. Und Jahre nach dem "Massaker" Liao Yiwus wurde Salman Rushdie im August 2022 von einem vermutlich islamistischen Messerstecher lebensgefährlich während einer Veranstaltung bei New York verletzt:

"Wir kennen keinen vergleichbaren Fall eines öffentlichen gewalttätigen Angriffs gegen einen Schriftsteller auf amerikanischem Boden", so zitiert die ZEIT Online am 13. August 2022 die Vorsitzende des Autorenverbandes PEN America, Suzanne Nossel, in einem Bericht über den Angriff auf Rushdie.

An diesen Ereignissen lässt sich ermessen, dass das Schrei(b)en durchaus zu den gefährlichen Tätigkeiten eines (und für einen) Menschen werden kann, wenn es auf eine Leserinnenschaft trifft, die sich davon so sehr getroffen wähnt, dass sie schnellstmöglich zurückschlagen muss. Und natürlich zieht dabei der Urheber des "Geschrie(b)nen" den Kürzeren, weil verDichterinnen zum Ausüben physischer Gewalt in den allermeisten Fällen weder gewillt noch gut trainiert sind.

Und es ist zugleich auch ein gutes Beispiel für die Kraftlosigkeit der poetischen Werke, die seit Jahrzehnten im - um es verkürzt zu sagen - abendländischen Sprachraum erschienen sind und erscheinen. Ich kenne nicht ein einziges Gedicht, keine Verse irgendeiner Art, die in den sogenannten "freien Gesellschaften" Zeit meines Lebens für eine mit der chinesischen vergleichbare Reaktion gesorgt hätten.
Und es ist sicher eine sehr einseitige Erklärung, dies auf die große Toleranz dieser Gesellschaften zurückzuführen - oder auf die in derern Verfassungen garantierte Freiheit von Kunst, Meinung und/oder Religion pp.

Dabei sind mögliche Gegenstände solch gefährlicher Verse durchaus auch in den "freien" Gesellschaften reichlich vorhanden. Genannt seien hier als Beispiele nur einige wie die Ausbeutung der Leiharbeiter beim Schweineschlächter Tönnies oder der (jahrhundertelang - und immer noch) totgeschwiegene, vertuschte und verharmloste sexuelle Schweinestall der katholischen Kirche.

Schrei(b)t davon irgendeine.r der aktuell lebenden Lühriggerinnen?
Nö - machen se nich, weil se Schiss haben, mit solchen Versen keinen Verlag zu finden oder gar vor Gericht erscheinen zu müssen. Nicht die große Toleranz der Gesellschaften also ist es in erster Linie, die das Schreiben ungefährlich macht, sondern die Feigheit der Versemacherinnen, die nicht den Mumm in den Knochen haben, von ihrem fast lautlosen Schreiben zum unüberhörbaren Schreien überzugehen.

Dabei ist das ganz leicht, wenn man einfach mal ein "b" weglässt...

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