<= Zurück

[<<] ... 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 ... [>>]  

[ Sie befinden sich in der Rubrik: Tagebuch ]








Start |
Inhalt |
Vorworte |
Tagebuch |


verDichtungen |

Dämonisches |
Fips&Fratz |
Lob & Tadel |
Verluste |
Lebensläufe |
RundumDumm |
Ende |

Schluss mit dem Stuss
oder
l‘ art pour l‘ art
der großen Schar


Irgendein Tag in irgendeinem September.
Ich lese und lese und werde mir immer fremder.

Die Gedichte von Männern und Frauen, gleich mehrere Dutzend auf zahlreichen Internetseiten oder in gedruckten Anthologien, dazu die Kritiken oder Rezensionen dieser Gedichte von anderen Männern und Frauen, machen mich immer ratloser und verwirren mich immer mehr.

Dachte ich noch vor nicht allzu langer Zeit, dass sich doch wenigstens zwei oder drei Lyrikerinnen finden ließen, deren Zeilen mich ansprechen, berühren, die ich verstehen oder sogar lieben könnte, so verkleinern sich diese Hoffnungen nahezu täglich, entpuppen sich als offensichtliche Illusionen.

Wie kann das sein?
Was verursacht dieses Zerfallen meiner geliebten Sprache in Wortfetzen, die ich zwar jeden für sich sehe und verstehe (meistens), deren Zusammenhang (und den muss es doch geben) mir aber fast in jedem Fall verborgen bleibt?

Habe mir erstmal eine Zigarette genehmigt, den Rauch in den trüben Septembertag geblasen und versucht, dieses Geheimnis zu ergründen. Das liest sich alles auch so hochintellektuell, da wird mit Wörtern operiert, die ein Mensch nur im Notfall benutzen würde, und es sind nicht nur einige Wenige, sondern fast alle, die da Kilometer um Kilometer Zeilen verfasst haben, bei denen mir die Lust am Lesen mit jedem Absatz mehr abhandenkommt. Ich klicke nur noch mechanisch auf den nächsten Namen oder die nächste Überschrift.
Ich erwarte nichts mehr.

Könnte es sein, dass zurzeit nur noch Leute schreiben, denen es in dieser Wohlstandsgesellschaft so gut geht, dass sie keine Schmerzen mehr kennen, dass sie keinen Mangel mehr leiden, der ihnen direkt auf den Magen schlägt, dass ihnen der Bezug zum tagtäglichen Wahnsinn, zu den Schreien, die überall auf der Erde immerzu geschrien werden, zu der großen Sinnlosigkeit allen Treibens, dass ihnen all das verloren gegangen ist, verdeckt durch einen dicken Speckmantel aus Oberflächlichkeit, Verwöhnung, Dauerkonsum?

Warum schreit da keiner/keine in einem Gedicht? Warum werden da ständig nur irgendwelche Rebhuhn-Stunde-Gimpel-Herbst-Wind-See-Ufer-Eis-Vogel-Flug-Alltagsgefühl-Wort-Hülsen-Kinkerlitzchen thematisiert? Keine/r schreit, alle flüstern oder murmeln geheimnisvoll. Sie haben dicke Tücher vorm Maul, die nur abgemagerte, ausgelaugte oder abgekochte Wörter durchlassen.

Gibt es für diese Lyrikerinnen nichts wirklich Wichtiges, Bedeutendes, Großes, Wunderbares, Zerstörtes, Zerstörendes, Schreckliches oder Schmerzhaftes mehr, nichts mehr, was so unerträglich ist, so grauenhaft, dass man über etwas Anderes gar nicht mehr zu sprechen oder zu schreiben wagt?

Das ist alles Kunst um der Kunst willen, l‘ art pour l‘ art in seiner abfälligen Bedeutung.
Ein Gedicht nach dem anderen, das als letzten besonderen Gedanken vielleicht gerade noch seine eigene Existenz reflektiert, mir aber nichts mitteilt, womit ich den Tag füllen könnte, wofür es sich lohnen würde, innezuhalten, aufzuhorchen, vielleicht sogar das eigene Leben mit anderen Augen zu sehen, keine Botschaft, keine Hilfe, keine Warnung – nur unverdauliche Wortsalate aller möglichen, aber in den meisten Fällen vor allem faden Geschmacksrichtungen.

Oder bin ich tatsächlich nur zu dumpf und stumpf, zu hölzern, nicht feinsinnig, nicht empfindsam genug für die behaupteten Schönheiten und Ausstrahlungen dieser Wörter, die wie Fliegenschiss auf ihren Unterlagen kleben, ob nun Papier oder Bildschirm spielt wirklich keine Rolle?
Bin ich einfach zu blöd?
Aber warum verstehe ich dann sonst eigentlich (fast) alles, was mir sprachlich begegnet?

Ich bin völlig ratlos und werde – wie oben gesagt – mir immer fremder, meinem Urteilsvermögen immer unsicherer.

Ist das vielleicht das Ziel dieser Lyriken und ihrer Ausdeutungen, mich mir fremder zu machen, mir klar zu machen, dass meine Zugänge zur Welt der Worte alle nichts taugen? Aber dafür braucht’s doch nicht dieses ständig gleiche und nur in Variationen wiederkehrende Wort-Gehäcksel, das kann man klar und deutlich sagen und nicht mit Wörtern, die, wenn ich sie lese, nur so tun als hätten sie eine Bedeutung, sich aber Augenblicke und eine eingehendere Prüfung später wieder maskieren, vernebeln oder sich für den nach einem Sinn suchenden Blick aufzulösen beginnen.



HIER DER HINWEIS - LINK - AUF "Paul Konrad KURZ Über moderne Literatur, => POP... mit Zitat, aus dem hervorgeht, dass sich in der PopArt die Bedeutungslosigkeit endgültig und bis heute Bahn gebrochen hat...


Das könnte es sein... Die Texte und/oder die Verfasserinnen tun alle nur so, als hätten ihre Worte eine Bedeutung, sie tun so, weil sie tatsächlich selbst von Bedeutung nichts mehr wissen wollen, weil sie es aufgegeben haben, selbst eine Bedeutung und einen Sinn zu verkörpern, zumindest zu versuchen, so etwas zu erschaffen.

Soll ich endlich einsehen, dass es grundsätzlich ganz zwecklos ist, sich um eine klare Position zu bemühen? Ist das verschlüsselt und gewissermaßen als unsichtbarer Hintergrund in all diesen Texten enthalten, dass wir in einem Zeitalter der Großen Beliebigkeit angekommen sind, in dem es reicht, wenn jeder nur für fünf Minuten berühmt oder bedeutend ist oder sein will, weil es eine Bedeutung, die die Zeiten überdauert, eine „ewige Wahrheit“, nicht mehr gibt? Oder ist es doch nur einfach eine literarische Mode, die irgendwann ganz von selbst wieder wechselt?

Und könnte oder soll ich sogar zu diesem Wechsel beitragen?
Will ich das versuchen?

Uff! Ja, das genau will ich versuchen. Ich will es, weil es so viele andere Arbeiter meiner/unserer/dieser Profession gibt, deren Werke ich wunderschön finde, die Verse aus purem Gold geschmiedet haben, oft noch mit Edelsteinen besetzt, „geschmeidige“ Gedichte, die jeder verstehen kann, die alle handwerklichen Vorgaben perfekt - und oft auch mit kreativen Aufbrüchen bereichert - erfüllen und die meiner Einschätzung nach deshalb „für die Ewigkeit geschrieben“ sind.

Davon will ich mehr. Und ich weiß, dass es möglich ist, weil es diese Beispiele wirklich erhabener und vor Sinn und Bedeutung geradezu triefender verDichtungen gibt – oder solcher, die auch leichter daherkommen, weniger wuchtig, dafür aber mit einer tänzelnden Gelassenheit, sofort verstehbar, sofort erkennbar und oft auch für alle Zeiten anwendbar.

Aber damit solche Verse wieder geschrieben werden, muss Schluss mit dem Stuss sein, dessen Ableben ich mit meinen verDichtungen zu beschleunigen hoffe. Erst wenn die „Luft wieder rein“ ist, wenn sich dieser Mief des Mittelmäßigen und der einlullende Gestank der Beliebigkeiten verzogen haben, kann wohl endlich wieder literarisches Edelgestein auftauchen, vollkommene Verse für Jedermannfrau, für deren Verständnis kein 22-semestriges Studium nötig ist, und das dann aber trotzdem nichts nützt.

[<<] ... 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 ... [>>]
<= Zurück


[ © 1953 - 2033, Reinhard J. Lenz-Stiewert, All rights reserved. ]
Impressum / Datenschutzerklärung