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Kindliche Schnipsel

er noch nicht gelebt, noch nichts erlebt hat, wer noch keine Erfahrungen sammeln konnte und noch keine Gelegenheit hatte, reflektierend darüber nachzudenken, was diese Erlebnisse bedeuten, was sie auslösen und wie sie das Leben verändern, wird kaum in der Lage sein, für diese Ereignisse die passenden Worte zu finden - schon gar nicht, wenn alles Erleben noch vom Dunst der Verantwortungslosigkeit und Unerfahrenheit der ersten zehn bis 20 Lebensjahre verborgen wird.

Die Gemütslage und die geistige Reife sind in der Regel auch im nächsten Jahrzehnt noch nicht so beschaffen, dass zuverlässig auf bedingungslose Ernsthaftigkeit und einen fundierten Erfahrungsschatz zugegriffen werden kann, wenn sich eine.r daranmacht, für die ganze Vielfalt des Lebens Worte zu finden. Selbst wenn großes Talent vorhanden ist

Hier wird nun die Geschichte "...von einem der auszog..." von vorn erzählt, von Anfang an. Diese Geschichte ist kein Märchen, sondern ein Tatsachenbericht, aber es handelt sich um Tatsachen, die sich auch in einem Kopf abgespielt haben, im Kopf desjenigen, ...der auszog....

s hat wohl mit einer Faszination begonnen, einer Begeisterung über ein Gedicht irgendeines Dichters, damals, vor vielen Jahren, vor so langer Zeit, dass heute nur noch vage Erinnerungen da sind. Da waren diese Worte, die das Herz eines kleinen Jungen bewegten, Worte, die noch dazu nach einer Melodie tanzten, einen Rhythmus hatten, der im Ohr summte und pulsierte, der dafür sorgte, dass er alles gut behalten, bald sogar auswendig konnte. Wahrscheinlich waren es "Max & Moritz" oder der "Struwwelpeter" oder ein paar Verse aus dem Volkslied "Der Mond ist aufgegangen" - oder alles zusammen.

Aber es dauerte viele Jahre bis aus dieser kindlichen Begeisterung das Bedürfnis enstand, der Wunsch, die Idee, so etwas selbst einmal zu formulieren, auch dichten zu können. Und die ersten Versuche gab es schon früh. Er erinnert sich noch gut an die Situation abends im kuscheligen Bett, beim geschützten und vertrauten Plaudern mit der Mutter und dem jüngeren Bruder. Die Erinnerung an dieses erste Aufkeimen des Verseschmiedens hat sich bis in seine späten Jahre gerettet, sogar wortwörtlich:
Da oben hängt das Papabild -
Wenn's regnet, wird das Bächlein wild
Kindliche Schnipsel, allenfalls zum Schmunzeln, keinesfalls etwas Ernsthaftes.

Als er dieses KinderVerslein viel später zum ersten Mal geschrieben vor sich sah, stellte er mit leichtem Erstaunen fest, dass es bereits Merkmale enthält, die es zur richtigen Lyrik machen: Der Inhalt ist zunächst schlicht beschreibend, da gibt es die Stabreime mit "P/B" und "W", Rhythmus und Silbenzahl sind einwandfrei, und ähnlich einem Haiku reiht sich fast zusammenhangslos Aussage an Aussage, assoziativ dahingestammelt, ohne die Kontrolle eines kritisch korrigierenden und hinterfragenden Verstandes.

Aus Absichtslosigkeit und einem zufälligen Einfall, aus der harmlosen Lust auf ein wenig Unterhaltung und/oder SprachSpaß und wohl auch schon damals der Lust am Fabulieren entfalteten sich zwei winzige Verse, zwei Verslein, nicht für die Ewigkeit gedacht, nur für den Moment gemacht und auch nicht für ein Publikum, eigentlich für niemanden, nur für jene, die gerade da waren, nebeneinander im Bett lagen und an das für Kinder gefährliche Hochwasser des kleinen Baches hinterm Haus und an den abwesenden Vater und Ehemann dachten.
Dann kam eine lange Pause...

u seinen eher merkwürdigen und nahezu putzigen Erinnerungen gehört die an einen seiner ersten Schreibversuche - vielleicht zehn Jahre nach den Kinder-Versen. In seinem 13. oder 14. Lebensjahr saß er in einem Keller der Freien Evangelischen Gemeinde in der Stephanstraße im Berliner Stadtteil Moabit. Dorthin zog er sich als pubertierender Knabe oft & gern zurück, um allein sein zu können. Er hatte ein leeres Blatt oder eine neue Kladde - wahrscheinlich ein Schulheft - vor sich und einen Stift in der Hand. Er wollte ein Schriftsteller wie Karl May oder Wilhelm Busch werden, er wollte schreiben, einen Krimi, eine Erzählung oder eine Kurzgeschichte, einen Roman, irgendwas, jedenfalls ein Buch. Und so saß er da...
Und nicht anders als später war er auf der Suche nach einem Thema, dachte darüber nach, worüber er denn nun schreiben müsse, was denn nun als ein erster Satz, als erstes Wort auf dem Papier stehen müsse.
Und so saß er da...
Und wenn er sich recht erinnert, saß er eine LangeWeile da - aber das Blatt vor ihm blieb leer.

Natürlich - soviel wusste er wieder erst sehr viel später - hätte er einfach über schöne Erlebnisse schreiben können oder von seinen Kümmernissen, über seine alltäglichen Verrichtungen, von der Schule oder von seinen Spielen mit Kameraden, aber nichts davon erschien ihm geeignet und wertvoll genug, um aufgeschrieben zu werden. Er wollte schließlich kein blödes (so dachte er damals) Tagebuch schreiben, sondern etwas "Richtiges". Auch sein heimliches Wichsen auf der Toilette, bei dem er immer das Entdecktwerden durch die Mutter oder ein anderes Familienmitglied fürchtete, erschien ihm nicht würdig, um es zu Literatur zu machen. Ganz im Gegenteil: Zu dieser Zeit wäre er nie auf die Idee gekommen, dass solche "schweinischen Heimlichkeiten" Stoff für ein Buch sein könnten oder dürften.

Noch viele Jahre danach blieben auch die anderen Blätter meist leer, die er im Laufe seines Lebens immer wieder mal vor sich liegen hatte. Und irgendwann, als er schon auf der Schwelle zum Erwachsensein war, wurde ihm endlich bewusst, wieso das so war:

Er hatte nichts zu sagen. Er hatte sowohl damals, als auch zu diesem Zeitpunkt des Heranreifens, schlicht & einfach nichts zu sagen.

Erst sehr viel später wurde ihm nach & nach klar, dass er nichts zu Papier bringen konnte, weil - und solange - er selbst noch ein unbeschriebenes Blatt war - zumindest ein Blatt, auf dem sich allenfalls ein paar Kringel oder Kleckse befanden, nicht jedoch bedeutsame Zeichen als Zeugnisse einer Seelenwelt, aus der er hätte schöpfen können...

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