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Der Hiob von Ewersbach

Erinnerungen eines gott- und fassungslosen Pastorensohnes

27. Dezember 1926     12. Februar 2020
ein Vater, der Evangelist, Pastor und Prediger Paul Lenz, ist tot. Er starb im Alter von 93 Jahren in den frühen Morgenstunden des 12. Februar 2020 im Alten- und Pflegeheim auf dem Ewersbacher Kronberg. Abends sei noch alles in Ordnung gewesen, berichten die Pflegerinnen, die gegen 04:00 Uhr feststellten, dass mein Vater tot war.

Mit ihm ist ein Mensch gestorben, der ein erfülltes Leben hatte, das fast bis zum Ende voll war mit besonderen Erlebnissen, mit beachtlichen Erfolgen, mit schweren Krisen und Niederlagen, vielen frohen Stunden, vielen bitteren Zeiten, aber auch bereichert durch zahllose Menschen, von denen umgekehrt wiederum viele auch von ihm bereichert, getröstet und seelisch gestärkt wurden. Er war ein treuer und liebevoller Ehemann, ein Vater, der sich für seine Kinder bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten einsetzte, ein Großvater, dem seine beiden Enkelkinder ebenso wichtig waren wie die eigenen Kinder und ein Ur-Großvater, der auch seinen drei Ur-Enkeltöchtern immer liebevoll und herzlich begegnete. Wenige Monate vor seinem Ende wurde er auch noch Ur-Ur-Großvater: Seine Ur-Enkelin Pia wurde im vergangenen Jahr Mutter eines Sohnes.

Mein Vater – selbst eines von drei Geschwistern – war ein lebenstüchtiger und vor allem auch ein lebensfroher Mann, der immer wieder davon sprach, dass er seinen 90. Geburtstag noch feiern werde. Das hat er geschafft, auch wenn es an diesem Tag nichts mehr fröhlich zu feiern gab. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er zusammen mit seiner vor anderthalb Jahren verstorbenen Frau Margarete auf dem Kronberg. Beide waren am Spätabend ihres Lebens von einer schweren Demenz gezeichnet, die zuerst bei meiner Mutter, dann aber auch bei ihm den Geist nahezu vollständig verwirrte.

Mein Vater erzählte unter anderem uns Kindern gern folgenden Schwank aus seinen Lehrjahren:
Ein angehender Pastor fragt vor seiner ersten Predigt einen schon dienstälteren Geistlichen, worüber er denn in seiner Predigt alles sprechen dürfe.
"Über alles", lautet die Antwort, "nur nicht über eine halbe Stunde".

In dieser kleinen Geschichte zeigt sich ein Charakterzug meines Vaters, den ich als eine seiner besonders typischen Eigenschaften in Erinnerung habe: Er hatte fast sein ganzes Leben lang den Schalk im Nacken, war eine echte "rheinische Frohnatur", kein karnevalistischer "Jeck" oder "Narr", aber als gebürtiger Leverkusener mit einer ordentlichen Portion Mutterwitz ausgestattet. Aber so gut wie er es vermochte, die Dinge auch immer von der heiteren Seite zu sehen, so gab es in ihm doch auch den ernsten Menschen, für den Anständigkeit und Aufrichtigkeit mindestens ebenso typisch waren wie die immer wieder humorvollen Reaktionen auf das für ihn oft zu kleinkarierte Gebaren seiner Mitmenschen.

och um diese Mitmenschen, seine „Nächsten“, ging es ihm Zeit seines Lebens an erster Stelle; ihnen versuchte er Mut zu machen, berichtete ihnen nicht nur sonntags als Prediger von der Möglichkeit, mit der Hilfe des Gottessohnes Jesus Christus aus einer verkorksten Existenz ein Leben voller Gradlinigkeit und Hoffnung zu machen. Menschen zu retten, das war seine Berufung als Prediger und Evangelist, die sein gesamtes Leben, sein ganzes Tun und Trachten bestimmte. Und auf meinen Vater konnte man sich verlassen. Wenn er bei jemandem oder für etwas im Wort stand, dann wurde dieses Wort gehalten. Mit einem Versprechen oder einer Zusage von ihm war man auf der sicheren Seite. Er war einfach und aufrichtig und hochprozentig zuverlässig.

Bei dem Wort "hochprozentig" fällt mir sein Weinkeller ein, der immer wohlgefüllt und mit zum Teil erlesenen Sorten und Jahrgängen bestückt war. Er mochte Wein, weil er ihm schmeckte, aber während seiner Pastorentätigkeit gab es beim Abendmahl trotzdem nur unvergorenen Traubensaft, weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, auf die Menschen Rücksicht zu nehmen, für die der Alkohol gefährlich sein konnte. Aber wenn wir unter uns waren, in der Familie oder zusammen mit Bekannten oder Verwandten, gehörte eine "gute Flasche" selbstverständlich dazu, wenn gegessen oder des Abends gemütlich geplaudert wurde. Auch dadurch bekundet sich, dass mein Vater von allzu ernsten und vermeintlich „bibelfesten“ Ansichten und Lehren nichts hielt. Trotzdem oder auch deshalb war Paul Lenz ein von fast allen Leuten geschätzter Mensch, der gemocht wurde, beliebt war und wohl überall immer wieder gern gesehen.

Der Klarheit und Eindeutigkeit ist es geschuldet, dass ich das hier ausdrücklich betone:
Ich habe meinen Vater niemals betrunken oder auch nur ansatzweise – wie es gern verharmlosend ausgedrückt wird – "angeheitert" erlebt. Dafür gab es immer wieder etliche Menschen, die er im Rahmen seiner Arbeit als Seelsorger auch als Suchthelfer betreute. Und oft kümmerte er sich auch um die, die durch den Alkoholismus eines Angehörigen "im Dreck saßen" - so beschrieb er selbst immer ganz ungeschminkt das Leid der Vielen, die sich von ihm Hilfe erhofften und auch erfuhren. Er hatte zwar einen vollen Weinkeller, war selbst aber nie „voll“. Und das passte auch gut zu seiner theologischen Haltung, ganz nach Markus 2,27, wo Jesus darauf hinweist, dass das Gesetz (der Sabbat) für die Menschen da sei, nicht der Mensch für die Gesetze.

"Gott, wenn Du wirklich da bist, dann hilf mir hier heraus!"

it diesem verzweifelten Stoßgebet begann während des Wütens des Zweiten Weltkrieges irgendwo an der sogenannten „Ostfront“ das Leben des Predigers Paul Lenz. Mitten im Wald habe er nachts in unmittelbarer Feindberührung gestanden und versucht, durch das dunkle Dickicht zurück zu seiner Einheit zu finden, immer begleitet vom Heulen der Stalinorgeln und dem Knattern der Maschinengewehre. Die Kugeln, so erzählte er es uns immer, seien ihm gefährlich dicht um die Ohren gepfiffen. Irgendwann habe er gemerkt, dass er sich nicht mehr auskannte, dass er sich verirrt hatte. Aber nach seinem Stoßgebet habe er beim Rückzug durch das unwegsame Gestrüpp ganz deutlich das Gefühl gehabt, dass da Einer oder Etwas gewesen sei, der oder das ihm den Weg zeigte, so dass er schließlich wohlbehalten wieder im Gefechtsstand bei seiner Truppe angekommen sei. Und als er an einem dieser Tage im Feuergefecht mit den russischen Truppen erlebt habe, wie einer seiner Kameraden in der nächtlichen Dunkelheit im Schützengraben von einem russischen Scharfschützen erschossen wurde, weil er sich unachtsam eine Zigarette angezündet hatte, gelobte er seinem "Vater im Himmel" voller Dankbarkeit, dass es ihn nicht erwischt hatte, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen.

Dieses Versprechen begann mein Vater nach seiner Heimkehr im Predigerseminar auf dem Ewersbacher Kronberg einzulösen, nachdem er zuvor nicht nur eine Beamtenlaufbahn in den Wind geschlagen, sondern auch das reizvolle Angebot eines Unternehmers ausgeschlagen hatte, der ihm eine gute Position in seinem Betrieb in Aussicht stellte. Während er seine Ausbildung zum Prediger an der Predigerschule absolvierte, begegnete er meiner Mutter, der ältesten Tochter des Ewersbacher Bürgermeisters. Am 30. Dezember 1951 wurde der Bund fürs Leben geschlossen, bevor das junge Paar Anfang der 50er Jahre nach Ost-Berlin zog, wo mein Vater seine erste Stelle als Gemeindeprediger bei der Freien Evangelischen Gemeinde im Stadtteil Baumschulenweg antrat.

Seinen kaufmännischen Begabungen und Neigungen frönte mein Vater später aber dann doch noch in vielfältiger Weise. Schon in frühen Jahren hatte er damit begonnen, Briefmarken zu sammeln, und im Laufe der Zeit war auf geheimnisvolle Weise eine stattliche Sammlung zusammengekommen. Mit diesem „Pfund“, der "Aktie des kleinen Mannes", begann mein Vater aber erst während seiner Pastoren-Zeit in Berlin-Moabit zu "wuchern". Wann immer er ein wenig Freiraum fand, saß er in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf den Stephanplatz, in dem auch das Bett der kranken Tochter Renate untergebracht war, über seinen Katalogen, Alben und Steckkarten, und es dauerte nicht lange, da begann er einen recht schwunghaften Handel mit seinen Schätzen. Gemeinsam mit einem Kompagnon, den er in der Freien Gemeinde in Moabit kenngelernt hatte, wurden Auktionen, Börsen und Ausstellungen besucht, von denen er fast immer mit einem ansehnlichen Sümmchen nach Hause kam.

Aber nicht nur die Familienkasse besserte er mit viel Geschick und oft nachhaltig auf. Als Koordinator begann er 1989 nach dem Zerfall des sowjetischen Ostblocks die Auslandshilfe der Freien Evangelischen Gemeinden im Wortsinne "ins Rollen" zu bringen. Dass aus den ersten kleinen Hilfslieferungen in die ehemaligen Ostblockstaaten, vor allem nach Rumänien und Bulgarien, alsbald Lastzüge voller Hilfsgüter wurden, war sicher auch seinem Unternehmergeist und seiner Geschicklichkeit zuzuschreiben. Aus den Ländern, die die Hilfstransporte der Auslandshilfe erreichten, erhielt er in dieser Zeit mehr Einladungen als er bewältigen konnte, wurde zu Vorträgen, Tagungen und Beratungen gebeten. Sehr zustatten kam ihm dabei immer wieder, dass er sich gern mit "großen Tieren" anlegte, ein Charakterzug, der ihm auch sonst oft Vorteile verschaffte, wenn er mit seiner warmherzigen, aber nachdrücklichen und oft humorvollen Respektlosigkeit von seinen Widersachern Gerechtigkeit oder Achtung für sich, seine Familie oder hilfsbedürftige Menschen einforderte.

Zuvor war er während seiner Tätigkeit als Prediger in der Zelt-Mission (nach eigenen Worten, die aber die Wirklichkeit durchaus treffend widergaben) "bekannt wie ein bunter Hund" geworden. Der Zelt-Evangelist Paul Lenz war damals ein junger Mann Anfang 30 und zog zu Beginn der 1960er Jahre nach seiner Zeit in Ost-Berlin mit zum Teil riesigen Zelten – ich erinnere, dass es zum Schluss ein Zelt gab, in dem 1000 Personen Platz fanden – als regelrechter „Wanderprediger“ durch fast ganz Deutschland. Und er erregte seinerzeit so viel Aufsehen, dass auch in den Tageszeitungen immer wieder von diesen „Auftritten“ berichtet wurde. Es waren die Jahre des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, und weil er bei seinen Evangelisationen mit Mitteln arbeitete, die in den "normalen" Gotteshäusern und Gottesdiensten eher verdächtig waren, avancierte er im öffentlichen Leben fast zu einer Legende. Vor allem nutzte er bei diesen Zelt-Missionen die in den Jahren des damals beginnenden technischen Evolutionssprunges noch für viele Menschen neuartigen Schallplatten mit zum Teil deftiger Schlagermusik als ungewöhnliches Medium, um die "Frohe Botschaft“ zu verkünden. Und auch den Siegeszug einer beliebten braunen und viel zu süßen Limonade aus Amerika machte er sich zunutze, um in Kneipen und Turnhallen die Jahrtausende alte Lehre der Bibel an Mann und Frau zu bringen.

ein Vater hatte während seiner Tätigkeit als Geistlicher des Bundes der Freien
Evangelischen Gemeinden manche Funktionen. Es begann damit, dass er schon Anfang der 60er Jahre zum Bundesjugendpfleger berufen wurde. Damals gehörte er auch gewissermaßen zum „harten Kern“ der „Deutschen Zeltmission“, und während seiner Tätigkeit als Pastor in Berlin-Moabit war er Ende der 1960er Jahre maßgeblich an den Diskursen um eine „richtige Theologie“ beteiligt, was unter anderem zur Entstehung der sogenannten „Evangelische Sammlung“ in Berlin führte, bundesweit besser bekannt als „Bekenntnisbewegung“, jener theologischen Ausrichtung, die im deutlichen Gegensatz zum Beispiel zu den historisch-kritischen Methoden der neuzeitlicheren Bibelauslegungen steht. In diesem „Glaubenskrieg“, der in Gemeinden, Kirchen und Hochschulen bis heute geführt wird, stand Paul Lenz immer klar auf der Seite derer, für die Jungfrauengeburt, Auferstehung, Himmelfahrt und die Wunder des Gottessohnes einer Wirklichkeit entsprachen, die in geheimnisvollen Berichten bezeugt, aber glaubwürdig und deshalb tatsächlich geschehen waren.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon etliche Bücher zu den Themen des Glaubens verfasst: „und führte ihn zu Jesus“ oder „und werdet meine Zeugen sein“ gehörten zu den bekanntesten seiner Schriften von damals. Auch beim Evangeliums-Rundfunk gab es eine Reihe mit Ansprachen und Kurzpredigten, die mein Vater aus den Studios in Wetzlar in den „Äther“ schickte.

Für sein Engagement als Leiter der Auslandshilfe erhielt er 1998 das Bundesverdienstkreuz, und der Staat Bulgarien, wohin durch diese Auslandshilfe Hunderte von Lkw-Ladungen mit Hilfsgütern gebracht wurden und noch immer werden, ehrte ihn 2005 mit dem höchsten bulgarischen Orden für Ausländer, dem "Madarski Konnik", dem "Reiter von Madara", der ihm in einer feierlichen Zeremonie in der bulgarischen Botschaft in Berlin verliehen wurde. Die Stadt Goze Deltschew machte ihn zum Ehrenbürger, und die Straße, an der die von ihm mitgegründete Klinik "Zeichen der Hoffnung" liegt, trägt den Namen "Ulica Paul Lenz" (Eine lesenswerte und wohl auch sachlich zutreffende Zusammenfassung seines beruflichen Lebens ist übrigens im Internet unter https://auslandshilfe.feg.de/informieren/mitmacher/paul-lenz/ zu finden).

Als ich zehn Jahre alt war, begann mit der Geburt meiner ersten Schwester, Renate, die bittere Zeit im Leben meiner Eltern. Aufgrund eines nicht genau zu diagnostizierenden „Geburtsfehlers“ war dieses Kind vom ersten Lebensjahr an so stark in seiner Entwicklung gestört, dass es weder das Laufen, noch das Sprechen oder auch nur das selbständige Essen erlernte. Als Renate, „Jatti“ genannt, mit 22 Jahren schließlich starb, war ihr geistiger Entwicklungsstand noch der eines neugeborenen Säuglings. Für meinen Vater war seine Familie ebenso wichtig wie seine Berufung als Evangelist und Seelsorger. Für uns, seine Frau und seine Kinder, nahm er fast jede Mühe auf sich – und mühevoll wurde es für ihn und meine Mutter schon in seinen noch jungen Jahren nach der Geburt dieser behinderten Tochter. Der täglichen und oft äußerst belastenden Pflege dieses Kindes widmeten sich mein Vater und meine Mutter gemeinsam mit nur kurzen Unterbrechungen bis zum Tod von Renate. Diese Tochter verbrachte ihr gesamtes Leben im Bett, und das Leben meiner Eltern und damit auch das von uns anderen Kindern, war durch diese Kranke in einem so hohen Maße beeinträchtigt, dass es immer wieder des ganzen Einsatzes gerade auch meines Vater bedurfte, um kleine Freiräume für ein normales Familienleben zu schaffen. Schon eine kaum dreistündige Abwesenheit von uns wurde für ihn und seine Frau zum Nervenkrieg, weil es jederzeit möglich war, dass sich die völlig Hilflose verkrampfte, sich erbrach und an ihrem Erbrochenen erstickte.

Die Geburt dieses Kindes war damals für meinen Vater der Grund, seine Tätigkeit als „Wanderprediger“ zu beenden, um sich besser um Frau und Familie kümmern zu können. Er fand 1965 in Berlin-Moabit seine neue Aufgabe – wieder als Gemeindeprediger –, bevor er nach fünf Jahren zur Freien Evangelischen Gemeinde Lüdenscheid wechselte. Nach elf Jahren endet auch die Arbeit in Lüdenscheid, und mein Vater wechselt zur Freien Gemeinde nach Siegen in die dortige Friedrichstraße, seiner letzten Station als Prediger. Hier muss es genügen wenn ich auf den Bericht einer Lokal-Zeitung aus dieser Zeit verweise, um anhand eines für diese Gegend besonderen Ereignisses zumindest anzudeuten, dass die Arbeit meines Vaters auch in Siegen auf große Resonanz stieß: Der „Siegerlandkurier“ berichtete im März 2010 anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Freien Evangelische Gemeinde Weidenau (https://www.siegerlandkurier.de/siegen/jahre-weidenau-5732866.html), dass die „Gottesdienste im Gemeindehaus Friedrichstraße häufig überfüllt waren“, so dass der dortige Pastor Paul Lenz 1985 zum „Gemeindegründer in Weidenau“ wurde. (Hinweis: Dieser Bericht ist im Internet nicht mehr zu erreichen, weil der "Siegerlandkurier" verkauft und sofort danach eingestellt wurde.)

Die oft aufreibende Tätigkeit als Pastor, aber wohl ebenso sehr die familiären Belastungen forderten ihren Tribut. Ende der 1980er Jahre, also während er als Pastor in Siegen tätig war, nicht lange, bevor er in den Ruhestand hätte wechseln können, wird er während einer Autofahrt von einer Schwäche überrascht, die sich unter anderem in einem kurzzeitigen, aber sich wiederholenden Gedächtnisverlust niederschlägt. Der Arzt, der ihn seinerzeit untersuchte und behandelte, riet ihm eindringlich, nun etwas kürzer zu treten; er habe genug gearbeitet.
Mein Vater nimmt dies ernst und beendet sein offizielles Berufsleben.

ber auch nachdem er zum Ruheständler geworden war, wurde es nicht ruhiger in seinem Leben. Nur wenige Jahre nach seinem Abschied von der Gemeindearbeit starb der zweite Sohn, mein Bruder Hartmut, 1998 an seiner Krebserkrankung. Mit 44 Jahren erlag er in Berlin einem Hirntumor, wurde verbrannt und in einem anonymen Grab beigesetzt.

Auch die zweite Tochter, Dorothee, schon in früher Kindheit verhaltensauffällig und später immer wieder von schweren depressiven Episoden heimgesucht, erreichte kein hohes Alter. Kurz nachdem sie Breck Brizendine geheiratet hatte, einen Mann, den sie während eines Aufenthaltes in Amerika kennenlernte, erkrankte sie an Darmkrebs und starb 2001 mit erst 37 Jahren. Sie ist hier auf dem Bergfriedhof bestattet.

Damit nicht genug – auch die schwere seelische Erkrankung seines Enkelsohnes, meines Sohnes Sebastian, war in diesen letzten Jahren für meinen Vater eine bittere Zeit, nicht nur, weil ihm Sebastians Wohlergehen am Herzen lag, sondern wohl auch deshalb, weil er noch einmal die Erfahrung machen musste, dass selbst die größten Anstrengungen und der beste Wille nicht genügen, um ein grausames Schicksal abzuwenden. In der ersten Zeit von Sebastians inzwischen längst chronischer Erkrankung unterstützte er ihn immer wieder und mehrfach bei den Versuchen, eine Arbeitsstelle zu finden und dort dann zurechtzukommen. Und auch beim Führerschein half er ihm unermüdlich, indem er ihn zur Fahrschule chauffierte, seine theoretischen Kenntnisse förderte und nahezu die gesamten Kosten übernahm.

Mein Vater wurde im Dorf wegen dieser dichten Folge an Ereignissen, die ihn und seine Frau immer wieder schwer erschütterten, zeitweise (und vielleicht wohl auch heute noch) als der "Hiob von Ewersbach" bezeichnet – ich lasse an dieser Stelle offen, warum es für die Mitmenschen zwar den "Hiob" gab, meine Mutter jedoch vom Ewersbacher Volksmund nicht erwähnt wurde, obwohl die Schicksalsschläge, die meinen Vater trafen, sie ganz sicher mindestens ebenso erschütterten. Vielleicht wurde sie nur deshalb nicht erwähnt, weil sie als „Entsprechung“ der in der biblischen Legende namentlich nicht genannten Frau Hiobs betrachtet wurde, die in der „Männerwelt“ der Heiligen Schrift auch keine Rolle spielt.

ber bleiben wir beim "Hiob von Ewersbach".
Im Leben meines Vaters gab es vor allem zwei Größen, die für ihn wichtiger waren als alles andere: An erster Stelle müssen da sicher sein Glaube und sein Gottvertrauen genannt werden. Ich bin kaum einem anderen Menschen begegnet, für den viele Inhalte der Bibel zwar voller Geheimnisse waren, aber weitaus die meisten doch echte „Worte des Lebens“, unverbrüchliche Wahrheiten eines „lebendigen Gottes“. Für meinen Vater war die „Frohe Botschaft“ über jeden Zweifel erhaben. Und dass Gott ein „getreuer Gott“ sei, das hat er trotz der familiären Unglücksserien sein ganzes Leben lang geglaubt und fest darauf vertraut. Obwohl sein Leben mit dem großen Engagement in der Gemeindearbeit und der ständigen Sorge um die Familie fast ohne wirkliche Pausen zur harten Knochenarbeit wurde, blieb er fest im Glauben an seinen „Heiland“ Jesus Christus, und er blieb auch ein Vater, der sich für uns Kinder immer wieder Zeit nahm und kaum eine Mühe scheute, um uns zu umsorgen und bei jeder erdenklichen Möglichkeit kleine (und auch größere) Freuden zu bereiten.

Trotz all dieser Traurigkeiten und trotz der großen Ernsthaftigkeit als Geistlicher und des unbedingten Einstehens für seine Frau und seine Kinder, verbitterte mein Vater nicht, war immer wieder ein fröhlicher und hoffnungsfroher Mensch, der seinen Neigungen und Interessen nachging, endlose Wanderungen durch die Wälder zu Rotkappe, Tintenschopfling, Birkenpilz und Marone, zu Him-, Brom- und Heidelbeeren und all den anderen Schätzen der Natur unternahm, unermüdlich Wochenendausflüge für und mit der Familie organisierte, fünf idyllische Forellenteiche anlegte, im gesellschaftlichen Geschehen auf dem Laufenden blieb und ganze Abende lang mit seinen Kindern Würfel spielte. Und auch die Urlaubsreisen mit seinen Lieben waren zumindest in den frühen Jahren voller Spaß und Abenteuer. Ich erinnere mich noch gut an die gewagten Kletterpartien in den Alpen, die lehrreichen Angeltouren auf den stillen Armen des Niederrheins oder an Bord eines Fischkutters auf der Nordsee, an die spannenden Besichtigungen von Tropfsteinhöhlen oder auch einfach nur an die österlichen Spaziergänge in den heimischen Wäldern, bei denen mein Bruder und ich – und später dann auch die kleine Dorothee – auf den Waldwegen ständig Schokoladeneier oder Naschereien aus Marzipan fanden oder andere erfreuliche Entdeckungen im Moos am Wegesrand machten.

as war mein Vater für mich? Was bedeutete er mir?
Als der letzte Überlebende der „Dynastie“ muss es genügen, wenn nur ich davon berichte, aber es wird für meinen Bruder Hartmut und meine Schwester Dorothee wohl zumindest nicht viel anders gewesen sein; meine Schwester Renate hätte auch zu Lebzeiten nichts berichten können.

Mein Vater war für mich Geborgenheit, Verlässlichkeit, Maßstab, Schutz. Er hat mir Mut gemacht, wenn ich nicht mehr zurechtkam mit mir oder dem Leben – zumindest in den früheren Jahren, bevor ich in das Alter kam, in dem die Erwachsenen zunehmend an Bedeutung verlieren, vor allem, wenn es die eigenen Eltern sind. Bis zum An- und Ausbruch meiner Flegeljahre war mein Vater jedoch derjenige, bei dem ich erlebte, dass man mutig und voller Zuversicht auftreten kann, wenn Dinge und Ereignisse Angst machen, der in vielen Situationen mit den „Superstars“ meiner Kindheit, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi Effendi, gleichauf war, die ich durch ihn kennengelernt hatte, weil fast alle von Karl Mays Werken in seinen vielen Bücherregalen ganz oben standen. Besser erreichbar, aber ebenso gut sichtbar, waren aber auch die 13 dicken Bände „Kirchliche Dogmatik“ des Baseler Theologen Karl Barth, der in der protestantischen Welt als „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird, 9000 Seiten, die mein Vater in seiner Bibliothek wie einen großen Schatz verwahrte. Und oft – sogar noch, als ich schon ein sogenannter Halbstarker geworden war – war ich stolz darauf, einen solchen Vater zu haben, den alle kannten und achteten, der immer wusste wie es in kniffeligen Lebenslagen weitergeht und auch selbst die Dinge in die Hand nahm, wenn es den heranwachsenden Kindern an Mut oder Geschicklichkeit fehlte.

„Gott, wenn Du wirklich da bist, dann hilf mir hier heraus!"

Mein Vater hat sein ganzes Leben lang fest daran geglaubt, dass sein Stoßgebet im Schlachtgetöse erhört wurde, und er hat mit seinem ganzen Leben die Dankesschuld beglichen, hat seinem Gott ohne Unterbrechung und ohne Unterlass „gedient“. Wie sehr dieser Glaube in ihm verwurzelt war, will ich durch einen Bericht über ein Gespräch zwischen ihm und mir zu beschreiben versuchen, das vor nun schon vielen Jahren geführt wurde.

ie zuvor schon oft – es war ein immer wiederkehrender Versuch meiner Eltern – fragte er mich seinerzeit, ob ich es nicht doch noch einmal mit Jesus versuchen wolle. Damals wies ich dieses Ansinnen nach längerem Hin und Her im schließlich heftigen Aufbrausen noch jüngerer Jahre zurück, indem ich ihm erwiderte, dass ich von einem Gott nichts wissen wolle, der – seit es die Menschheit gebe – nicht einen Finger krumm mache, um die vielen Tragödien, Traurigkeiten und Tränen zu beenden. Noch dazu werde behauptet, dass dieser Gott ein allmächtiger himmlischer Vater sei, und das bestärke mich noch mehr in meiner Überzeugung, dass es sich – wenn es ihn denn zu unser aller Überraschung doch geben sollte – nur um ein ausgemachtes Arschloch handeln könne.

Wenn wir früher über das Christentum gestritten hatten, konterte mein Vater meine Angriffe immer mit theologischem Sachverstand, und ich war schon darauf eingestellt, jetzt erneut eine längere Abhandlung zu hören zu bekommen, aber die kam diesmal nicht.

„Damit beleidigst du MICH ja...“
Dieser kurze Satz war alles, was er erschrocken erwiderte.
Erst viel später – und eigentlich zu spät – habe ich begriffen, dass es meinen Vater nur zusammen mit seinem Glauben an Gott gab, und erst nach diesem Gespräch habe ich verstanden, dass dieser Glaube für meinen Vater mehr war, als ein theoretisches Gedankenspiel, dass es etwas war, das seine ganze Person betraf, den ganzen Paul Lenz, den ich mit meinen wüsten Sprüchen bezichtigt und damit für blöde genug bezeichnet hatte, an ein Arschloch zu glauben.

Das tut mir heute noch leid – und umso mehr, als es vor diesem Hintergrund noch eine späte Wendung gab, die mich immer noch betrübt, weil sie darauf hinzuweisen scheint, dass mein Vater zum Schluss auch seinen letzten Trost verloren hat. Vor erst wenigen Monaten sprach ich ihn bei einem Besuch im Pflegeheim noch einmal auf dieses Gespräch über Gott an, um ihn für meine wüsten Worte um Verzeihung zu bitten. Daran könne er sich nicht erinnern, sagte er zunächst und dann wörtlich:

„Der hat so ein paar Sachen gemacht. Mit dem habe ich nichts mehr zu tun.“

Zwar hatte ihn die Demenz zumeist fest im Griff, aber immer wieder überraschte er meine Frau und mich doch mit klaren und mitunter auch witzigen Aussagen. Mit einer solchen in überzeugendem Ernst geäußerten Abkehr von Gott hatte ich jedoch nicht gerechnet. Und so sehr ich auch meinte, ihn verstehen zu können, so sehr war ich doch auch wieder fassungslos darüber, dass ihm sein Glaube, der für ihn ein Leben lang Halt und Inhalt war, nun als Trost anscheinend doch nicht mehr zur Verfügung stand.
Weiter in ihn zu dringen, ihn danach zu fragen, wie das genau zu verstehen sei und ob er darunter leide, ob ihn dieser Verlust schmerze, wagte ich angesichts seines Allgemeinzustandes nicht – und er war Augenblicke später auch schon wieder in seinem dementen Gleichmut ganz weit weg und ganz woanders.

eim Hiob des Alten Testamentes gab es ein „Happy End“, er erhielt alles zurück „mehr denn zuvor“ (Hiob 42,12) und wurde 140 Jahre alt. Der „Hiob von Ewersbach“ hatte in seinen letzten Jahren nur noch einen Schneidezahn im Oberkiefer, seine anderen Zähne hatte er verloren, verloren wie seine Kinder, seine Frau, seinen Verstand und womöglich auch seinen Gott.

Und ich werde als der Übriggebliebene weiter fassungslos sein, weil weder mein Vater noch meine Mutter, noch meine Geschwister ihr schmähliches und für sie alle elendes und unbegreifliches Schicksal verdient hatten. Dass es auf der Welt allüberall und schon immer Ähnliches und Schlimmeres gegeben hat, gibt und geben wird, weiß ich, aber das ändert nichts am Leid derer, die mir nahe waren, auch nichts an den vielen Enttäuschungen des „Hiobs von Ewersbach“.

Vor dem Hintergrund dieser und all der vielen anderen Erinnerungen, die hier nicht alle geschildert werden können, gehört eine Aussage meines Vaters zu den traurigsten. Während eines unserer meist kurzen Besuche im Pflegeheim saß er leicht vorgebeugt in seinem Rollstuhl und versuchte etwas zu erzählen. Mit der rechten Hand massierte er immer wieder seinen kahlen Kopf, seufzte leise und sagte schließlich nur
"Wenn ich doch nur wüsste, was ich weiß..."

Dass das Arbeitszimmer meines Vaters in dem inzwischen verkauften Haus in der Hauptstraße 100 hier in Ewersbach mit den aus Backsteinen von ihm selbst gemauerten Bücherregalen, mit dem Schreibtisch und den vielen Briefmarkenalben jetzt „verwaist“ ist, kann ich noch akzeptieren, dass es nun aber mit meinem Vater auch den letzten Menschen dieses Teils meiner Familie nicht mehr gibt, damit kommt mein Verstand nicht zurecht. Und das wird wohl auch noch lange so sein.
Und meine Frau ist einfach traurig darüber, dass sie ihren Schwiegervater, den sie lieb hatte, nur so kurz erleben konnte.

Ich würde jetzt gern noch einmal mit ihm am Bauerngestell oder hier im Berger Wald „in die Pilze gehen“. Und abends gäbe es dann ein duftendes Pilzragout à la Paul Lenz mit selbstgemachten Spätzle à la Margarete Lenz und dazu einen guten Tropfen aus dem Weinkeller…

Paul Lenz, der Pastor, „Wanderprediger“, Evangelist und Seelsorger, unser Vater, Schwiegervater, Großvater, Ur-Großvater und Ur-Ur-Großvater war war ohne jeden Zweifel einer der wertvollen Menschen auf dieser Erde. Und er hat es verdient, dass seinem Wesen & Wirken auch nach seinem Tod in einer Weise gedacht wird, die nichts beschönigt, aber gerade deshalb erkennen lässt, dass er nicht nur ein überzeugter und standhafter Christ, sondern vor allem immer wieder ein humorvoller, liebenswerter und wunderbarer Mensch war. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich sage, dass es ihm beständig darum ging, die Welt besser und schöner zu hinterlassen – besser und erträglicher als er sie jeweils vorfand. Ohne ihn ist sie nun ärmer geworden.

Er ist jetzt in Sicherheit und kann nicht mehr enttäuscht und beleidigt werden – von Gott nicht und nicht von mir.

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