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Verluste und Geschenke

s gibt Ereignisse, die nicht einfach so passieren, so nebenbei und ohne dass sie einer besonderen Beachtung wert wären. Es sind Ereignisse, denen etwas Mystisches anhaftet, etwas Besonderes. Und mitunter sind es Ereignisse, die gleich doppelt bedeutsam erscheinen, so dass es angebracht erscheint, noch einmal auf einer höheren Stufe darüber nachzudenken.

Diese "höhere" Stufe sei kurz erklärt: Vor vielen Jahren hatte ich einen kleinen Lederbeutel (siehe Foto) verloren, den ich als Geldbeutel immer bei mir trug. Vor einigen Monaten dann schrieb ich die Geschichte dieses Verlustes auf und hatte sie in einer Datei auf meinem Rechner gespeichert. Der Rechner stürzte ab, und obwohl ich meine Dateien regelmäßig und sorgfältig immer wieder auf anderen Festplatten sichere, blieb diese Datei mit der Geschichte um den verlorenen Lederbeutel verschwunden. Trotz langen und genauen Suchens konnte ich sie nicht mehr finden.

Den Lederbeutel hatte ich seinerzeit - ungefähr ein Jahr nach dem Verlieren - im Berliner Tiergarten wiedergefunden - die später geschriebene Geschichte davon war jedoch nur noch schemenhaft in meinem Kopf vorhanden. Deshalb muss ich sie hier noch einmal aufschreiben - sozusagen ein Wiederfinden der anderen Art, eigentlich eine Rekonstruktion, fast eine Dublette. Deshalb handelt es sich um einen zweifachen Verlust, der direkt und indirekt mit derselben Sache zu tun hat. Was mich daran stutzig macht, ist weiter unten ausführlicher erklärt.

amals, als mir mein "Beutelchen" physikalisch abhandenkam, hatte ich 'Sarah', eine afghanische Windhündin meiner seinerzeitigen Romanze, im Berliner Tiergarten ausgeführt und das lammfromme Tier auch abgeleint, damit es etwas mehr Auslauf genießen konnte. Nach einer Weile trieb sich die Hündin aber etwas zu ausgiebig im Ufergebüsch in der Nähe der sogenannten Tiergartengewässer herum, die nördlich der Tiergartenstraße zu finden sind und reagierte auch auf meine Lockrufe nicht mehr. Also schlug auch ich mich in die Büsche, um des Tieres wieder habhaft zu werden.

Das war nicht so einfach, weil es in diesem Bereich etliche Trampelpfade und eine Menge Unterholz gibt. Teilweise musste ich tief gebückt und fast kriechend durch die Botanik robben, hatte aber schließlich das "Windspiel" wieder am Wickel, so dass ich mich auf den Rückweg machen konnte.

Kurz vorm Auto folgte dann der kleine Schreck: Beim Griff nach dem Autoschlüssel vermisste ich meinen Geldbeutel, einen kleinen Lederbeutel, den ich einige Jahre zuvor auf einem Flohmarkt in der hessischen Universitätsstadt Marburg erstanden und seither als Geldbeutel benutzt hatte. Beide Manteltaschen waren leer, und auch in meinen Hosentaschen fand ich nur die Haustürschlüssel und ein Päckchen Tabak plus Blättchen und Feuerzeug.

Natürlich marschierte ich - die Hündin diesmal fest an der Leine - sofort den Weg zurück, in der Hoffnung, dass der Beutel irgendwo im Gebüsch oder auf den Trampelpfaden zu finden sei. Doch ich wusste kaum noch, wo genau ich 'Sarah' verfolgt hatte, so dass ich die Suche nach einiger Zeit ernüchtert aufgab und mich zerknirscht wieder auf den Weg zum Auto machte.

s war ein gutes Jahr später, dass ich wieder einmal in diesem Teil des Tiergartens unterwegs war, diesmal allerdings ohne tierische Begleitung. Beim Anblick der kleinen Adlerbrücke, die im Parkbereich ungefähr dort zu finden ist, wo sich Hofjägerallee und Tiergartenstraße kreuzen, erinnerte ich mich unwillkürlich an meinen Verlust, schüttelte jedoch sogleich innerlich den Kopf: Dass der Beutel nach dem Herbst mit seinem Laubfall, einem schneereichen Winter und zudem angesichts der Parkbesucher, die in großer Zahl auch in diesem Teil des beliebten Stadtparks unterwegs waren, noch zu finden sein könnte, schloss ich nach wenigen Augenblicken rigoros aus, um - wenige Augenblicke später - zu bemerken, dass ich - schon etwas weniger rigoros - bereits in eben jenem Uferbereich durch die Büsche wanderte, wo ich vor etwa Jahresfrist herumgestrampelt war, um eine Windhündin einzufangen.

Und schon hefteten sich meine Blicke auf den Untergrund, suchten links und rechts der Trampelpfade eifrig Unterholz und Bodendecker ab, wobei ich gleichzeitig immer wieder dachte: "Wat'n Blödsinn - nach so langer Zeit hier wieder den Spürhund zu spielen. Du weeßt ja nichma', wo jenau du damals langjeloofen bist." So stritten sich die beiden Seelen in meiner Brust und in meinem Kopf ein paar Minuten lang, bis ich schließlich irgendwo in dieser "Wildnis" stehen blieb, noch einmal - erneut verwundert über meine Hartnäckigkeit - zunächst in die weitere Umgebung äugte, die Blicke dann aber doch noch einmal zu Boden richtete - und erstarrte...

Genau vor meinen Füßen, nicht etwa zehn oder zwanzig Zentimeter entfernt, sondern exakt vor meinen Schuhspitzen, lag mein Lederbeutelchen, augenscheinlich unberührt, denn es war noch so verknotet wie ich es immer zu schließen pflegte und auch fast unversehrt, von ein paar Verwitterungsspuren an den oberen Rändern abgesehen.

Ich stand da etwa zehn oder zwanzig Sekunden lang völlig reglos - und dachte wohl zunächst überhaupt nichts, bis mich plötzlich die Panik packte und ich mich blitzschnell bückte, um mein Beutelchen zu ergreifen, bevor es sich möglicherweise einfach in Luft aufgelöst hätte...

s wird wohl zu verstehen sein, dass ich in diesen Momenten verwirrt und vielleicht auch verrückt reagierte. Dass ich nach vielen Monaten, nach Regengüssen, Blätterfall, Schneetreiben und Touristengetrampel wie ferngesteuert durchs Gestrüpp latschte, nachdem ich völlig unbeabsichtigt an dieser Stelle im Tiergarten vorbeigekommen war und kurz vorm Einsetzen des gesunden Menschenverstandes an einer x-beliebigen Stelle zum Stehen kam, so dass der Beutel genau vor mir lag oder besser vielleicht: ich genau vor dem Beutel stehen blieb - dies alles ging dem nüchternen Realisten, als den ich mich selbst beschrieb (und beschreibe), ganz klar für kurze Zeit über die Hutschnur.

Das klarere Nachdenken über dieses Erlebnis kam dann etwas später. Zunächst wollte ich natürlich wissen, ob auch der Inhalt vollständig war. Meiner Erinnerung nach waren nur ein paar Mark, ein paar Groschen und einige Kupferstücke darin gewesen - und ein kleines in Alufolie verpacktes Stückchen eines schon damals allgemein und auch bei mir beliebten Harzes. Alles war noch da! Die Münzen zum Teil angerostet und von der Feuchtigkeit auch etwas "patiniert", aber alles war komplett.

Zuhause unterzog ich den Beutel einer sanften Einreibung mit Olivenöl, um ihn wieder geschmeidiger zu machen, ließ ihn dann einige Tage lang an der Luft trocknen und verstaute ihn schließlich in einer Schatulle, in der ich auch andere Erinnerungsstücke aufbewahre. Eine weitere Nutzung als Geldbeutel verbot sich, weil der obere Rand dafür doch zu zerschlissen war. Zudem hatte ich mir inzwischen Ersatz aus Kunstleder gebastelt, der seinen Zweck ebenso gut erfüllte, so dass ich problemlos die "Denkmalsvariante" wählen konnte.

un aber galt es noch, diesen im Wortsinn nahezu unglaublichen Zufall meinem Weltbild einzuverleiben. Von den Astronomen oder Astrophysikern habe ich irgendwann einmal gelernt, dass in diesem Universum alles passieren kann, was den Naturgesetzen nicht zuwiderläuft. Selbst zehn grüne Ampeln hintereinander an fünf aufeinanderfolgenden Tagen auf der Fahrt von Spandau nach Moabit sind demzufolge im Bereich des Möglichen, allerdings tendiert die Wahrscheinlichkeit eines derart bevorzugten Fortkommens auf Heerstraße, Kaiserdamm und Bismarckstraße so gut wie gegen Null - aber es könnte passieren!

Nicht viel anders schätzte ich auch das unverhoffte Wiederfinden meines Beutels ein: Ihn wiederzufinden war zwar nahezu so unwahrscheinlich wie die chronische "Grüne Welle" in Berlin, aber es gehörte eindeutig zu jenen Ereignissen, die den Naturgesetzen nicht widersprechen. Das Eingreifen einer höheren Macht, dass ich also "geführt" wurde, schloss (und schließe) ich aus, weil ich mir trotz längeren Grübelns keinen glaubwürdigen Grund vorzustellen vermochte (und vermag), den ein Gott, ein Geist oder ein Alien hätten haben können, mir mein Beutelchen "zurückzugeben". Dass ich nahezu willenlos von einem der breiten Spazierwege abgewichen und ins Gestrüpp spaziert war, hatte eindeutig mehr mit einer Ohnmacht meines Verstandes zu tun als mit einem Eingreifen mystischer Überwesen gleich welcher Ausprägung.

Allerdings macht mich nun wieder die oben schon erwähnte "höhere Stufe" nachdenklich. Dass mir ausgerechnet die bereits aufgeschriebene Geschichte dieses Lederbeutels durch einen Computerschaden verloren ging, obschon ich mit meinen BackUps sorgsam verfahre und dieser Text auch der einzige unwiederbringliche digitale Verlust war, den ich nach dem Computerabsturz beklagen musste, ist zumindest eine seltsame Doppelung an Verlusten, so dass ich fast geneigt bin, mir die Bedeutung von "Verlusten" beim Nachdenken übers Leben und vielleicht sogar noch für eine speziell darüber zu schreibende verDichtung zu merken - wenn ich die irgendwann einmal in Angriff nehmen sollte...

Jaja, ich weiß, so kann einem schnell eine Sicherung durchbrennen - vor allem, wenn derartige Grübeleien chronisch werden. Deshalb sei an dieser Stelle dazu nichts weiter erzählt - wobei allerdings erwähnt werden könnte, dass der "Verlust"-Gedanke in einer meiner verDichtungen auftaucht - allerdings in nur negativer Textumgebung, also kaum ausgelöst durch eine versteckte Erinnerung an die Beutelgeschichte.

leibt zu erwähnen, dass ich das Wiederfinden eines so unscheinbaren Gegenstandes in einem durchaus weitläufigen Teil des Großen(!) Tiergartens immer noch und immer wieder für eines der besonderen Erlebnisse in meinem Leben halte (sonst würde ich davon hier auch nicht so ausführlich erzählen). Es gibt zwar noch eine ähnliche Geschichte, die allerdings den Nachteil hat, dass ich keinen dinglichen Beweis dafür habe, dass das, was sich noch sehr viel früher in meinem Leben in einem anderen Berliner Park zutrug, tatsächlich so abgespielt hat, wie ich es erinnere. Diese Erinnerung wird in einem eigenen Beitrag dieses verDichteten Konglomerats erzählt, weil sie sich inhaltlich drastisch von der Lederbeutel-Verlust-und-Wiederfinden-Geschichte unterscheidet, obwohl es sich ebenfalls um eine außergewöhnliche und immerhin so unheimliche Begebenheit handelt, dass ich viele Jahre darüber nachdenken musste.

Dass ich mein Beutelchen gut aufbewahren werde, wahrscheinlich bis zu meinem Lebensende, dürfte sich von selbst verstehen - schließlich ist es einer der sichtbaren Nachweise dafür, dass auch ich einmal unglaubliches Glück hatte, ein großes Geschenk bekam, ohne es zu wollen oder mich zuvor groß anstrengen zu müssen. Ein weiteres großes Geschenk erhielt ich, als ich nach 45 Jahren Siggi wiedertraf, in die ich mich verliebt hatte, als wir in der Heinrich-von-Kleist-Oberschule in einer Klasse waren. Damals wurde nichts aus uns - vielleicht nur deshalb nicht, weil ich nach Lüdenscheid umziehen musste.

Kurz nach diesem Wiedersehen - in dieser Erzählung sollte es vielleicht besser Wiederfinden heißen - vor jetzt etwa zwölf Jahren haben wir geheiratet ... und in etwa zwölf weiteren Jahren werden wir uns

gemeinsam von diesem Leben verabschieden.

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