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Margarete Frieda Lenz



20. Juli 1930     30. Juni 2018
argarete Frieda Lenz, geborene Donges, ist gestorben. Meine Mutter ist tot, die Großmutter meiner Kinder und die Ur-Oma meiner Enkelkinder gibt es nicht mehr. In ihren letzten Jahren wurde sie von Tag zu Tag immer weniger – und jetzt - - - gibt es sie gar nicht mehr.

Immer, wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der sie noch vollständig bei Verstand war, an die vielen Jahre, in denen sie ganz da war, auch und vor allem für uns, sehe ich sie vor mir: Sie liest, sie steht in der Küche, sie musiziert, sie malt, sie lacht, sie weint, sie schimpft, sie ringt die Hände, spielt Federball, schneidert, strickt, singt oder sitzt still und in sich versunken im Garten auf einer Bank am Ufer der Dietzhölze. Ich sehe sie mit ihren Kindern, Enkelkindern und Ur-Enkelinnen schäkern, Karten spielen, Strümpfe stopfen und Weihnachtsplätzchen backen.
Ein ganzes Leben voller Aktivitäten, voller Einsatz und Hingabe, das nun zu Ende gegangen ist.

Ich bin über ihren Tod nicht nur sehr traurig, ich bin zugleich auch sehr froh, weil sie es nun geschafft hat. Ich bin aber auf alle Fälle wütend, wütend darüber, dass das Leben meiner Mutter, das ein langer, ein elend langer Kampf gewesen ist, immer wieder voller Hoffnungen, voller Freuden, aber ebenso voller Schmerzen war, auf eine so schäbige Weise zu Ende gegangen ist. Ich kann nur hoffen, dass ihr Verstand in ihren letzten Jahren beeinträchtigt genug war, um diese furchtbare Zeit nicht doch noch irgendwie in einer kleinen Ecke ihres Gehirns wahrgenommen zu haben, eine Zeit, die sie allervermutlichst wieder als Strafe Gottes empfunden hätte, ohne dass sie sich hätte erklären können, wofür sie bestraft wird.

eine Mutter war eine gottesfürchtige Frau, sie glaubte an Jesus, als den Sohn Gottes. Ich, ihr Sohn, glaube weder an Gott noch an seinen Sohn. Bei dem, was ich hier aufschreiben werde, wird dieses Spannungsfeld zwischen dem, was meine Mutter glaubte und dem, was ich nicht glaube, immer wieder deutlich werden. Ich sage das vorher an, damit empfindliche Naturen jetzt schon darüber informiert sind, dass es in diesen Zeilen nicht „frei-evangelisch“ zugehen wird.

Was ich zu berichten habe und über meine Mutter erzählen will, sind die Gedanken und Erinnerungen eines Überlebenden. Einen Überlebenden nenne ich mich, weil meine drei jüngeren Geschwister schon seit vielen Jahren tot sind – aber dazu später mehr. Meine Mutter wurde 87Jahre alt und starb 20 Tage vor ihrem 88. Geburtstag in geistiger Umnachtung, nachdem ihr Verstand schon viele Jahre zuvor damit begonnen hatte verlorenzugehen. Ihre schwere Demenz setzte ein, als sie auf die 80 zuging. Es war ein schleichender Prozess, und vor allem der Anfang dieses Zerfalls war für meine Mutter quälend, weil sie noch mitbekam, dass sie krank war, dass sie sich selbst verloren ging.
Warum werden Menschen dement? Vielleicht, weil es manchmal Gründe genug gibt, um den Verstand zu verlieren, genug Belastungen, um das Gehirn endlich die Waffen strecken zu lassen, weil es einfach nicht mehr kämpfen kann. Bei meiner Mutter war das allervermutlichst so.

Dass man über Tote nicht schlecht reden soll, weil die sich nicht mehr wehren können, halte ich für einen dummen Spruch, den Menschen ersonnen haben, denen scheinheilige Verlogenheiten lieber sind als klare Worte. Ich werde mich an diesen vermeintlich anständigen Grundsatz nicht halten. Einiges von dem, was ich zu berichten habe, wird für manche vielleicht recht schwer zu verdauen sein, aber das lässt sich nicht ändern. Das lässt sich nicht ändern, weil es zum Leben dieser Toten gehört – und damit auch – so denke ich – zu meinem Leben, dem Erstgeborenen von Margarete Lenz; schon das erscheint mir Berechtigung genug, um vielleicht Unbequemes ansprechen zu dürfen – selbst, wenn es streckenweise bitter klingen mag. Aber ich richte nicht und will hier nicht abrechnen, natürlich nicht: Wer bin ich denn, dass ich den Stab über einen Menschen brechen dürfte. Es ist eine Bilanz, mit der ich versuche, Rechenschaft abzulegen, Rechenschaft für diese Tote und teilweise auch für die, die mit ihr verbunden waren und in ihren Erinnerungen noch mit ihr verbunden sind. Ich rede nicht schlecht über meine Mutter, sondern berichte – so gut es geht und so, wie es mir richtig & wichtig erscheint. Und natürlich will ich auch an diese Frau erinnern, daran, dass sie ihr Leben lang gelitten – aber auch immer wieder von Herzen froh war und schallend lachen konnte.

argarete Lenz, geb. Donges, war auch eine Erstgeborene, das erste Kind des Ewersbacher Bürgermeisters Fritz Donges. Sie war von frühester Jungend an eingebunden in die Pflichten eines noch zu großen Teilen landwirtschaftlich geprägten Haushalts, in dem direkt neben der Küche der Stall für die Kühe und Schweine angebaut war. Ihr Vater war mit Herz & Hirn ein strenger Mann, ein durchaus preußisch eingestellter Pflichtmensch, aber doch auch ein aufrechtes und verantwortungsvolles Familienoberhaupt, dessen Gottesglaube eine wichtigste Lebensgrundlage war. Ihre Mutter, Frieda Donges (daher der zweite Vorname meiner Mutter), war hingegen eine sanfte Frau, von deren Wesen meine Mutter wohl einen guten Teil geerbt hatte und die mit ihrer Gutmütigkeit immer wieder Ausgleich zum gelegentlich jähzornigen Vater war. Aber meine Mutter hatte auch von ihrem Vater einen Teil der Gene abbekommen: Auch sie konnte dickköpfig bis zur Sturheit sein und bei Streitigkeiten im höchsten Maße zornig-hochtrabend und selbstgerecht.

Während ihre drei jüngeren Geschwister, Artur, Else und Marianne, studieren bzw. beruflich tätig werden konnten, wurde dies meiner Mutter nicht gestattet, eine Benachteiligung, die ihr Zeit ihres Lebens zu schaffen gemacht hat, zumal auch viele ihrer Jugendfreunde die sogenannten Weihen der höheren Schulen erfahren durften.
„Auch durch Nachdenken kommt man auf vieles“, tröstete sie sich und gab diese Erkenntnis als Lebensweisheit an ihre Kinder weiter. Und obwohl wir – zwei meiner Geschwister und ich – auf Schulbildung nicht verzichten mussten, war das ein Satz, der für mich mein Leben lang wichtig geblieben ist.

Sie war eine schöne und selbstbewusste Bürgermeisterstochter, voller Lebenslust und Lebenskraft. Von ihren Mitschülerinnen in der Volksschule in Ewersbach wurde sie „DO 17“ genannt. Die Dornier 17 war ein zweimotoriges Hochgeschwindigkeits-Kampfflugzeug, das während des Zweiten Weltkriegs – also zur frühen Jugendzeit meiner Mutter – Berühmtheit erlangte. Und aus der Gleichheit der Anfangsbuchstaben von Donges und Dornier sowie wegen der herausragenden Eigenschaften der Dornier 17 entstand der Spitzname „DO 17“ – unter anderem als eine spitzfindige Anerkennung dafür, dass sie die schnellste Läuferin ihres Schuljahrganges war. Ihre Schnelligkeit – sie hat uns Kindern das oft erzählt – rettete ihr bei den Angriffen der Stukas mehr als einmal das Leben, wenn es galt, vom freien Feld in einen Wald zu flüchten, der vor den Fliegern und ihren Maschinengewehren Deckung bot.
Eine Schulkameradin oder ein Schulkamerad kam – wenn ich mich richtig erinnere – bei einem dieser Angriffe in der Ewersbacher Feldgemarkung ums Leben.
Nach dem Krieg begegnete sie meinem Vater, dem während seiner Soldatenzeit die Kugeln noch dichter um die Ohren geflogen waren und der nach dem Krieg seine Ausbildung zum Prediger an der Predigerschule auf dem Ewersbacher Kronberg absolvierte. Obwohl sie sicher waren, dass sie nicht mehr voneinander weichen würden, dauerte es noch eine Weile bis zur Hochzeit, weil ein Predigerschüler natürlich keinen Hausstand gründen konnte. Am 30. Dezember 1951 wurde jedoch der Bund fürs Leben geschlossen.

achdem das junge Paar Anfang der 50er Jahre nach Ost-Berlin gezogen war, wo mein Vater seine erste Stelle als Gemeindeprediger der Freien Evangelischen Gemeinde des Berliner Stadtteils Baumschulenweg angetreten hatte, kam ich zur Welt. In den Wirren der Nachkriegszeit im noch völlig zerstörten Ost-Berlin und der ständigen Angst vor der schon damals eifrigen Staatssicherheit der DDR, der Stasi – jener Nachfolgeorganisation der Gestapo der Nazis – fühlte meine Mutter sich oft allein und verloren. Und als eines Tages bei den Aufständen um den 17. Juni 1953 ein Sowjetsoldat mit seinem Gewehr in meinem Kinderwagen herumstocherte, war das für meine Eltern das Zeichen, dass es Zeit wurde, diesen Teil Deutschlands zu verlassen.

Leichter wurde es für meine Mutter jedoch nicht. Zwar lebte sie nun wieder in Ewersbach in ihrer vertrauten Heimat, aber mein Vater war über Jahre hinweg oft wochenlang nicht bei ihr und ihren inzwischen zwei Söhnen. Als Zelt-Evangelist durchreiste er fast ganz Deutschland, und meine Mutter war immer wieder „Strohwitwe“.

Ich habe diese Zeit dennoch in guter Erinnerung. Wir lebten als Kinder inmitten einer großen Verwandtschaft, und die Mutter umsorgte uns liebevoll und meist auch heiteren Gemüts. Oft lagen wir (mein Bruder Hartmut und ich – damals noch kleine Würstchen) abends mit unserer Mama im Bett und erzählten uns Geschichten oder machten kleine Gedichte: Da oben hängt das PapaBild. / Wenn’s regnet wird das Bächlein wild. So beispielsweise reimten wir uns gemeinsam mit ihr das Fehlen des Ehemannes und Vaters und die Gefahren für uns Kinder durch das Hochwasser der Dietzhölze poetisch kindgerecht, aber keineswegs jammervoll zusammen.

Sie hat uns fast alle Freiheiten gelassen – wir konnten uns im Dorf und den Wäldern stundenlang herumtreiben und Abenteuer erleben wie es uns gefiel, hatten Stallhasen, spielten mit den Molchen vom Hammerweiher und den Mäusen aus der Scheune, plünderten Krähennester, waren Cowboys & Indianer – und bei alledem immer begleitet von den sorgsamen Sinnen meiner Mutter, die uns warnte, ermahnte und ausschimpfte, die uns aber auch bestätigte und lobte. Grenzen – klare Verbote – gab es aber immer dann, wenn wir Dinge taten, die uns oder anderen gefährlich hätten werden können.


[64]

Es ist vollbracht!
Du mußt sie nicht mehr sehen
Es ist vorbei.
Du kannst schon bald vor ihrem Grabstein stehen,
dann bis du frei.

Sie war ein Monster - unermeßlich häßlich -
wie angefault,
ihr Kinderlied hat sie dir unvergeßlich
ins Ohr gejault.
Sie war wie hohl - nicht mehr als Haut und Knochen,
fast ein Skelett,
und meistens hat es sonderbar gerochen
aus ihrem Bett.
Sie war kein Mensch - sie hatte keine Träne -
nicht mal für sich.
Sie war dein Kreuz: Durch deine schönsten Pläne
war sie der Strich.

So lag sie da wie

eine große Wunde
- Am Sarg der Schwester -

die nie verheilt.
Der Tod hat sich das Häppchen alle Stunde
neu eingeteilt.
Und du gingst Hand in Hand mit ihr zugrunde -
tagaus tagein
ging (m)eine Mutter vor die Hunde
und blieb allein.

Nun seh ich endlich ihre dürre Leiche
im letzten Hemd.
'ne Randfigur, die ich jetzt einfach streiche -
sie blieb mir fremd.
Ich war zu feig', sonst hätt' ich sie erschlagen,
ganz gleich womit,
und manchmal fehlte - jetzt kann ich es sagen -
nur noch ein Schritt.
Für mich gibt's deshalb keine letzten Fragen,
mir ist jetzt klar:
Sie war ein Häufchen Elend
nur ein Magen,
der sinnlos war.

Nun wird sie dich und sich nicht länger quälen!
Ihr Bett ist leer.
Und weiter gibt es
hier
nichts zu erzählen
Ich will nicht mehr!

ieses größtenteils so sorglose Familienleben endete Anfang der 60er Jahre. Meine erste Schwester, Renate, kam zur Welt, und schon kurz nach der Geburt stellte sich heraus, dass sie Zeit ihres Lebens schwer behindert bleiben würde. Eigentlich war sie kein richtiger Mensch, hatte nicht einmal die niederen Fähigkeiten eines Tieres. Auf immerwährendes Drängen meiner Mutter entschloss sich mein Vater schließlich, das Leben als „Wanderprediger“ zu beenden, und so ging es Mitte der 60er Jahre wieder nach Berlin – diesmal allerdings in den Westteil der Stadt, wo er als Gemeindeprediger bei der Freien Gemeinde im Stadtteil Moabit eine feste Anstellung erhalten hatte.

Für die noch junge – inzwischen vierfache – Mutter folgten nun erneut Jahre des Heimischwerdens in dieser geteilten und ihr immer wieder unheimlichen Weltstadt, Jahre, die dieses Mal noch dazu Jahre des Aufopferns waren. Meine Eltern – und wohl in erster Linie meine Mutter – hatten sich entschieden, Renate nicht in ein Heim zu „stecken“, sondern ihr ein Zuhause zu geben, das allerdings doch eigentlich nur aus ihrem Bett bestand, weil sie weder laufen noch sitzen noch sonst etwas konnte. Die Folge war, dass es keine wirklich freie Zeit für meine Mutter gab, weil dieses Kind rund um die Uhr Bedürfnisse oder Beschwerden hatte, auch fast in jeder Nacht und oftmals auch auf Reisen. Eine Bürde, die das ganze Familienleben belastete, weil die Kräfte gebunden waren, die sie für sich selbst, ihren Mann und die drei anderen Kinder hätte gebrauchen können (Mein nebenstehendes Gedicht mag ausreichen, um einen kleinen Einblick in dieses Leben zu bekommen). Auch die zweite Tochter, Dorothee, die wenige Jahre später geboren wurde, war früh auffällig, hatte als Kleinkind kürzere Krampfanfälle und blieb bis ins Erwachsenenalter das, was man „schwer erziehbar“ nennen kann. Immer neue „Eskapaden“ der als manisch-depressiv Diagnostizierten führten zu ständigen Kämpfen zwischen Mutter und Tochter. Und auch Dorothees Ehe mit einem US-Amerikaner entspannte die Lage nur kurze Zeit, weil Dorothee nur ein oder zwei Jahre nach ihrer Hochzeit und dem Umzug in die Vereinigten Staaten an Darmkrebs erkrankte und nach wenigen Monaten in Deutschland verstarb. Renate war zuvor schon an ihrer unheilbaren Krankheit gestorben. Dorothee liegt auf dem Ewersbacher Bergfriedhof in der Erde; wo Renate begraben wurde, weiß ich nicht. (Ein gewolltes Unwissen, diese Gleichgültigkeit, wird vielleicht auch durch das oben erwähnte Gedicht verständlich.)

nd auch ich, der noch lebende Erstgeborene, sorgte mit einem zum Teil durchaus abenteuerlichen Leben, zu dem üble Motorradunfälle und ein über viele Jahre umtriebiges Vagabundendasein gehörten, immer wieder dafür, dass das Mutterherz nicht zur Ruhe kam. Es mag diesem geschundenen Mutterherz zuzuschreiben sein oder auch ihrer religiös geprägten Moralvorstellung oder auch einfach ihrem mitunter maßlosen Perfektionismus, dass auch ihre dunklen Seiten nicht verborgen blieben.

Als ich als schon 19-Jähriger in Lüdenscheid, wo mein Vater nach Berlin eine neue Predigerstelle gefunden hatte, eines Tages eine neue Freundin mit nach Hause brachte, riss meine Mutter die Tür meines Zimmers auf und schrie: „Mein Haus ist kein Hurenhaus!“ Da kannte sie diese Freundin, die natürlich keine Hure war, sondern meine von diesem Auftritt völlig schockierte spätere erste Ehefrau, nicht mal vom Sehen. Es genügte, dass ich „mal wieder Weiberbesuch“ hatte, um einen Kübel Mist auszuleeren, der noch nach Jahrzehnten seinen Mief verbreitete.

Das grausame Zusammenwirken von Mutterliebe und religiöser Bedrängung erlebte ich auch bei einer anderen Episode. Es war während einer mehrwöchigen Freizeit der Jugendgruppe der Berliner Gemeinde in England. Ich war damals 16 Jahre alt und ein Haschisch rauchender Hippie, der die bürgerlichen Autoritäten bei jeder Gelegenheit kritisierte. Bei einer solchen hitzigen Debatte mit den Jugendlichen und der Freizeitleitung, zu der auch mein Vater gehörte, ergriff mich meine Mutter urplötzlich am Arm, zog mich aus dem Haus und noch ein gutes Stück weiter über den Hof auf einen entlegenen Feldweg und begann mit verzweifelten Ausrufen und Gebeten, mir den (oder die) Teufel auszutreiben.
Wie verwirrt (Oder ist „Wie irregeleitet“ nicht doch richtiger?) muss ein Mensch sein, um etwas zu tun, was mit Vernunft und Menschlichkeit nichts mehr gemein hat?
Vielleicht haben Sie ja eine Antwort...

ber zurück zu den anderen Katastrophen, mit denen meine Mutter leben musste.
Etwa ein Jahr vor dem Wechsel des Jahrtausends erlag auch mein Bruder Hartmut dem Wüten eines Hirntumors. Er wurde auf eigenen Wunsch verbrannt und anonym auf einem Berliner Friedhof beigesetzt. Auch dieser Tod musste von einer Mutter verkraftet werden, die fast ihr ganzes Leben lang eine nahezu Hirntote gepflegt hatte und sich daneben mit ihrem wildgewordenen Nesthäkchen herumschlug, das immer wieder aus fragwürdigen bis kriminellen Situationen „gerettet“ werden musste. Als sei der Tod von drei Kindern nicht genug, begann etwa zur gleichen Zeit wie das Sterben ihres zweiten Sohnes, meines Bruders, das seelische Leiden ihres Enkelsohnes Sebastian, meines Sohnes, dessen zum Teil dramatischen Verlauf sie noch miterleben musste, bevor sie selbst mehr und mehr den Verstand verlor. Seine Erkrankung erschütterte sie nicht weniger als mich, den Vater und Sebastians Mutter und Schwester.

Aber trotz dieser Zusammenballung all der schweren Schläge eines unbegreiflichen Schicksals, hörte sie nie auf, sich um ihre noch lebenden Lieben zu kümmern. Sebastians Schwester, meine Tochter Mirjam, hatte Zeit ihres Lebens engen Kontakt zu ihrer Großmutter und wurde von ihr schon als Kind immer warm umsorgt und aufs Herzlichste bemuttert. Beide Kinder hatten in ihr eine Oma, von der sie wie eigene Kinder geliebt wurden und die ihre Entwicklung mit sorgevoller Aufmerksamkeit verfolgte. Und diese besorgte Aufmerksamkeit setzte sich auch bei ihren Urenkelinnen Pia, Anna und Helene fort, bis die Demenz diesem Be-Ur-Groß-Muttern ein Ende setzte.

Auch die Unterstützung ihres Mannes bei seiner Arbeit mit den Menschen in den Gemeinden gehörte für sie zu den Selbstverständlichkeiten. Vieles von dem, womit sich ein Prediger herumzuschlagen hat, wurde für sie zur eigenen Herzensangelegenheit, und sie besprach mit ihrem Mann oft die Aufgaben, denen er sich zu stellen hatte, stand ihm mit Rat und oft auch mit Tat zur Seite, war ihm immer eine aufmerksame Begleiterin.

Aber meine Mutter hatte es auch oft am „Hauptnerv“ – das war das Wort, mit dem sie ihre depressiven Zeiten zu benennen versuchte, das Beruhigungsmittel „Praxiten“ half ihr über Jahre hinweg, mit ihrer Verzweiflung über Renate, das „arme Kind“, fertigzuwerden, und sie schaffte es immer wieder, die einstige Lebenslust und -freude zumindest teilweise zurückzugewinnen. Sie fing an zu töpfern und zu malen und schuf manch eigenartiges Kunstwerk, das Blickfang war und die Wohnungen schmückte. Sie begann Englisch zu lernen, machte als schon reifere Frau den Führerschein, restaurierte alte Bauernmöbel und führte völlig selbständig ihren Bibelladen in der Ewersbacher Hauptstraße. Da war sie schon über die 50 Lenze hinaus, aber bei dieser – ihrer ersten beruflichen – Tätigkeit mit Feuereifer bei der Sache und hatte im höheren Alter sogar ein wenig von ihrem laut schallenden Lachen wiedergefunden, das in ihren unbeschwerten Jahren eines ihrer Markenzeichen war. Sie war musikalisch talentiert und interessiert, konnte ein wenig Klavier spielen, übte mit uns Kindern auf der Blockflöte und hörte bis zum Schluss gern die Oratorien oder Sinfonien der alten Meister von Schallplatte oder CD. Und ihre glockenhelle und klare Sopranstimme mit dem deutlichen Vibrato war beim gemeinsamen Singen – ob im Chor, in den Gottesdiensten oder bei anderen Gelegenheiten – immer klar und deutlich zu erkennen.

ns Kindern hat sie immer Mut gemacht, wenn wir mit irgendeinem Problem zu kämpfen hatten, ob in der Schule, beim Umgang mit Nachbarsleuten, mit Spielkameradinnen, unfreundlichen Erwachsenen oder mit uns selbst. Und sie war unablässig darum bemüht, dass etwas aus uns wurde. So habe ich zum Beispiel das Schreibmaschinenschreiben bei ihr gelernt, weil sie irgendwann einfach einen Kursus zuhause durchführte.

Ihr Geburtsdatum, der 20. Juli, war für sie etwas, das sie ohne Stolz, aber mit ein wenig Ergriffenheit betrachtete, weil dies der Tag war, an dem Stauffenberg seine Bombe neben Hitlers Schreibtisch abgestellt hatte – es war für sie ein Tag, der dafür stand, dass zumindest der Versuch unternommen worden war, den Verbrechen der Nazis ein Ende zu setzen. Davon erzählte sie uns Kindern immer mit Begeisterung und auch immer mit dem klar erkennbaren Bedauern, dass dieser Befreiungsschlag missglückt war. Dass die Nazis nichts taugten, hatte sie schon früh von ihrem Vater erfahren, der Hitler und seinem Braunen Gesindel ein baldiges Ende prophezeite, „weil sie sich an den Juden, dem Volk Gottes, vergriffen“ hatten.

Gott...
Das ist nun das Stichwort für den letzten Teil dieser Erinnerung. Dies bedeutet aber nicht, dass es nur noch schnell erwähnt werden müsste, weil es in ihrem Leben keine große Bedeutung hatte. Ganz im Gegenteil. Als Frau eines Predigers und auch als Kind gottesfürchtiger Eltern und ganz sicher auch aus eigener Entscheidung war sie tiefgläubig und vertrat „die Sache Gottes“ den größten Teil ihres Lebens mit inbrünstiger Überzeugung. Und sie beließ es nicht bei Worten: Erich Kästners Kurzgedicht
„Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“
war für sie die Richtschnur, und es gab in den vielen Jahren immer wieder Hilfsbedürftige, um die sie sich oft viele, Monate lang tatkräftig bemühte und kümmerte.
Sie hat auch für das Wohlergehen ihrer Kinder unablässig gebetet, hat ihre Sorgen ihrem „Vater im Himmel“ ein Leben lang tagtäglich vorgelegt. Aber ob diese Gebete erhört wurden, ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Selbst Menschen, die an Gott glauben, werden es angesichts der Lebensläufe der Kinder meiner Mutter – den meinen eingeschlossen – schwer haben, hier eine Antwort zu finden. Ich habe da schon seit längerer Zeit eine Entscheidung getroffen: Sie hat vergebens zu Gott gefleht. Ihre Gebete wurden nicht erhört. Vielleicht sind ihre Seele und ihr Verstand auch genau deshalb im Alter zerbrochen.

s mag jetzt vor ungefähr zwölf Jahren gewesen sein als sie und ich einmal allein zusammensaßen und dabei auch über Glaubensdinge sprachen. Damals gestand sie mir zum ersten Mal, dass sie angesichts und eingedenk all des Schrecklichen in ihrem Leben oft ernsthafte Zweifel an Gottes Güte erfasst hätten. Unter Tränen und völlig verzweifelt habe sie immer wieder zum Himmel geschrien – ohne eine Antwort zu erhalten. Sie habe sich von Gott verlassen gefühlt – und trotzdem hat sie nicht von ihrem Glauben lassen können.

Nach der Geburt der Tochter Renate und nachdem sich herausgestellt hatte, dass sich dieses Kind nicht normal entwickeln würde, musste sich meine Mutter von einer Frau aus ihrem damaligen Ewersbacher Bekanntenkreis folgenden Satz gefallen lassen:
„Wie schwer musst du oder jemand in deiner Familie gesündigt haben, dass Gott dich mit so einem Kind bestraft.“

Jahrelang, wenn nicht ihr ganzes Leben, hat sie sich immer wieder gefragt, ob nicht doch sie die Schuld daran trage, dass ihr Kind krank geboren wurde, und auch der frühe Tod ihrer beiden anderen Kinder fand damit seine verschrobene Deutung. Aber sie war auch vollkommen fassungslos, dass es Menschen gab, die so über sie dachten. Denn gelitten hat sie immer besonders dann, wenn es denen nicht gut ging, die sie liebte, für die sie sich auf der Welt wusste. Und deshalb hat sie fast ihr ganzes Leben lang gelitten und getrauert – aber auch gekämpft, oft auf vieles verzichtet, um die Schicksale derer zum Guten zu wenden, für die sie sich verantwortlich fühlte, die ihr vertraut und lieb waren.

ott tat angesichts all ihrer Mühen das, was er am liebsten tut: Er tat nichts. Auch dann nicht als sie selbst „heimgesucht“ (so nennen es die Gläubigen ja gern) wurde und sich ihre Persönlichkeit in dieser Umnachtung auflöste, in der sie mehr als ein Jahrzehnt verschwunden blieb. Als ihre Demenz begann, wurde Gott immer kleiner in ihr, und als sie schließlich völlig den Verstand verlor, war von Ihm nichts mehr übrig. In einem solchen Zustand spielt der angeblich Allmächtige ersichtlich keine Rolle.

Um die Tote müssen wir uns nun keine Sorgen mehr machen – selbst dann nicht, wenn es doch so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tode geben sollte. Dann wäre sie ohnehin im Himmel, wo angeblich alle Traurigkeiten enden und würde mit dem milden Lächeln eines allumfassenden Verständnisses und einer grenzenlosen Vergebung auf das Treiben bei ihrer Beerdigung herabblicken. Schon in ihrer Zeit auf Erden hat sie diese vergebende Liebe immer zu leben und an ihre Kinder weiterzugeben versucht – allen Traurigkeiten und Enttäuschungen, aller Verzweiflung und allen Anfeindungen zum Trotz. Mitunter ist es ihr nicht gelungen, aber dass sie es oft auch geschafft hat, bezeuge ich hier und heute ausdrücklich. Mit ihr ist eine Frau gestorben, die es fast immer schwer hatte im Leben, die oft selbst schwierig, jedoch mindestens ebenso oft zugewandt war und vergnügt und um ihre Mitmenschen besorgt.

Und nun spielt all das für sie keine Rolle mehr – für uns jedoch schon, weil wir noch eine Weile weiterleben, fühlen und denken müssen. Nicht nur deshalb werden wir uns immer an sie erinnern, denn wir hatten sie lieb, und die Lücke, die sie hinterlässt, schmerzt und macht traurig – zumindest mich und alle, die ihr nah waren.

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