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Ein Seh- oder Lesebuch


ass fast alle meine verDichtungen ihre Titel gewissermaßen in sich tragen, dass diese Titel im Verlauf des Textes sowohl „erzeugt“ werden als auch dem Text weiter zugehörig sind, es also keine eigene Titelzeile gibt, die obendrüber oft ziemlich verloren bis überflüssig herumsteht, gehört einerseits zum Konzept der „Verdichtens“, weil auf diese Weise schlicht Raum (Wort-Volumen) gespart wird.
Aber diese text-immanente Titelei hat auch noch den Vorteil, dass auf einen Kern, eine/n Kernaussage oder -gedanken, hingewiesen werden kann, auf eine inhaltliche Zentrale, die nicht von außen gedeutet werden muss, sondern sich während des Lesens automatisch zu erkennen gibt.

Das Vorlesen meiner verDichtungen wäre insofern ein eher schwieriges Unterfangen. Natürlich könnte man durch Lautstärke auf die Besonderheit der Worte hinweisen, die den Titel darstellen, aber das entspricht allervermutlichst nicht den Hörgewohnheiten. Schon in den Schulen wird es geübt: Eine Schülerin steht vor der Klasse und sagt: „Die Bürgschaft – von Friedrich Schiller“, und dann geht es eben weiter. Das geht so bei meinen Versen nicht, aber das Vorlesen oder Vortragen ist auch aus anderen Gründen nicht die geeignete Verabreichungsform, weil es zu viele nur mit dem Auge erfassbare Brüche, Wendungen, Verfremdungen, Mehrdeutigkeiten und mitunter regelrechte Buchstabensalate gibt (siehe verDichtung [6]), die sich akustisch nicht vermitteln lassen.

Schrift ist nicht Klang, und alle Bemühungen, den Wörtern mittels lautsprachlicher "Geheimzeichen" den Klang gewissermaßen „anzuhängen“, erfordern nicht nur ein gründliches Spezialwissen auf beiden Seiten, sondern sind wegen der systemimmanenten Ungenauigkeiten auch keine tragfähige Lösung. Vermittels der sogenannten IPA-Zeichen der Internationalen Phonetischen Lautschrift lässt sich zwar nahezu jeder Laut, also jede Aussprache-Variante eines Buchstabens oder einer Buchstabenkombination darstellen, aber für eine hundertprozentige Genauigkeit reichen auch diese IPA-Zeichen nicht, und zudem sind diese Symbole so vielgestaltig, dass es eines eigenen und sehr langen Lehrgangs bedürfte, sie wenigstens einigermaßen in mit dem Mund erzeugte Laute umsetzen zu können. Einen ausführlichen und von der Problematik überzeugenden Überblick gibt es natürlich bei Wikipedia. Beachtenswert sind für mich vor allem die Bezeichnungen für die unterschiedlichen "Laute" - zum Beispiel für Variationen des "B": "Stimmhafter bilabialer Vibrant" oder "Stimmhafter bilabialer Frikativ". Da lacht das Herz des lernunwilligen Durchschnitts-Philologen...

Kurz: Die „normale“ Schriftsprache eignet sich zwar für die Darstellung der Wörter, um sie in einem abgegrenzten Sprachraum erkennen zu können, nicht aber für eine Darstellung der Feinheiten, die gesprochene Sprache aufzuweisen hat. Und insofern sind auch die Verfremdungen in meinen verDichtungen nur Annäherungen an Bedeutungsinhalte, die zwar gesehen werden können, aber gesprochen zu einem seltsamen Kauderwelsch zerlaufen würden. Dieser Schriftsatz – ganz sicher aber der Löwenanteil meiner verDichtungen – muss gelesen und kann nicht – oder allenfalls auszugsweise – vorgelesen werden. Es ist ein Seh- oder Lesebuch, kein Hör- oder Vorlesebuch.

Dabei fällt mir ein, dass auch das Vorlesen von Texten vieler "neuzeitlicher" Lyriker - zum Beispiel eines Celan-Gedichts - ein eher seltsamer Vorgang ist. Wie soll man Wörter vorlesen – und somit ja auch irgendwie betonen –, von denen man allenfalls ungefähr wissen kann, was sie zu bedeuten haben? Ein Auszug aus Paul Celans "Engführung" mag als Beispiel genügen:

...Nächte, entmischt. Kreise,
grün oder blau, rote
Quadrate: die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen
Stunden. – Kreise,...

Ein solches Unterfangen muss zu ungenießbaren Ergebnissen führen, so ungenießbar wie eine Speise, die von einer Köchin zubereitet wurde, die weder den Geschmack von Salz noch den irgendeines Gewürzes kennt.

Aber dazu steht Ausführliches in der Kategorie „Lyrikologie“, so dass ich allen (mich eingeschlossen) hier Einzelheiten ersparen kann.

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